Dr. Thomas Barow und Dr. Daniel Östlund

“The system shows us how bad it feels”: special educational needs assessment in North Rhine-Westphalia, Germany.


Zusammenfassung

Der Artikel ”The system shows us how bad it feels”: special educational needs assessment in North Rhine-Westphalia, Germany" ist Teil eines Forschungsprojekts, das sich mit der Entwicklung der sonderpädagogischen Diagnostik in Schweden und Deutschland beschäftigt. Der Beitrag erschien im European Journal of Special Needs Education und ist frei zugänglich. Theoretischer Ausgangspunkt der Untersuchung sind im Sinne von Ludwik Fleck unterschiedliche Denkstile, die sich nur langsam weiterentwickeln und dabei Widerstände innerhalb von Denkkollektiven überwinden müssen. Fleck unterscheidet dabei die Ergänzung, Erweiterung und Umwandlung von Denkstilen. In der Studie wird diese ursprünglich aus der Naturwissenschaft stammende Perspektive auf pädagogische Zusammenhänge übertragen.

Foto: Associate Professor Dr. Thomas Barow

Im Rahmen der qualitativ empirischen Forschung wurden 12 Einzel- bzw. Gruppeninterviews (21 Interviewpersonen) mit Lehrkräften für Sonderpädagogik, Grundschullehrerinnen und Schulaufsichtsbeamtinnen und -beamten in fünf Kommunen von Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Die qualitative Inhaltsanalyse der Transkripte führte zu vier Themengebieten: (1) zur Natur und Logik der Begutachtung, (2) der Rolle von Intelligenztestverfahren, (3) der Kooperation von Professionellen und (4) der Teilhabe von Eltern, Schülerinnen und Schülern. Die Ergebnisse sind zum Teil ambivalent: Einerseits neue Formen systembezogener Ressourcenverteilung, andererseits aber eine fortwährende Zunahme sonderpädagogischer Förderbedarfe, was sich als Interview-Zitat „The system shows us how bad it feels“ im Titel des Beitrags widerspiegelt. Deutlich wurde die weiterhin hohe Bedeutung von Intelligenztestverfahren, deren Sinnhaftigkeit von den Interviewten jedoch sehr unterschiedlich eingeschätzt wurde. In der Kooperation unterschiedlicher Professionen dominiert vielfach die sonderpädagogische Expertise. Die Eltern haben infolge einer Regeländerung 2013 gestiegenen Einfluss auf die Gutachteninitiierung und Förderortswahl, jedoch werden ihre spezifischen Sichtweisen auf die schulischen Leistungen und den Förderbedarf ihres Kindes nur ansatzweise berücksichtigt. Die Schülerperspektive findet bei der Begutachtung nur geringe Beachtung.

Foto: Associate Professor Dr. Daniel Östlund

Die Studie, die aufgrund des Designs begrenzt generalisierbar ist, spiegelt eine Kontinuität älterer Forschungsergebnisse wider. Die sonderpädagogische Kategorisierungspraxis folgt in ihren Grundzügen einer Tradition, deren Wurzeln in der Sonderbeschulung liegen. Barow und Östlund sehen zwar eine Ergänzung und in Teilen eine Erweiterung, jedoch noch keine Umwandlung von Denkstilen i.S. einer Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse aller Lernenden in einer inklusiven Schule. In der Weiterentwicklung von Denkstilen – begleitet von einem flexibleren Regelwerk – sehen die Autoren die zentrale Herausforderung für die Zukunft.

Barow, T. & Östlund, D. (2019). “The system shows us how bad it feels”: special educational needs assessment in North Rhine-Westphalia, Germany. European Journal of Special Needs Education, 34(5), 678-691, DOI: 10.1080/08856257.2019.1603595 (Open access)

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