Wir trauern um unseren Stiftungsgründer Prof. Dr. Dietrich Eggert.
Dietrich Eggert verstarb am 12. Januar 2022 im Alter von 81 Jahren. Er hat sich jahrzehntelang für ein inklusives Bildungssystem eingesetzt und in 36 sehr aktiven und produktiven Dienstjahren an der Universität Hannover die Psychologie der Behinderten und die Sonderpädagogik nachhaltig und auf vielfältige Weise beeinflusst.
Dietrich Eggert studierte in Berlin und Hamburg Psychologie und Publizistik. Er arbeitete als Volontär und Redakteur beim Hamburger Abendblatt, erwarb 1965 das Diplom in Psychologie und bearbeitete danach drei Jahre als Forschungsassistent bei Curt Bondy in Hamburg die Standardisierung der Testbatterie für geistig Behinderte. 1969 promovierte er bei Gustav Lienert in Düsseldorf mit einer Arbeit „Zur testpsychologischen Differenzierung der geistigen Behinderung“. Nach drei Jahren Assistenz in der Psychiatrie der Universität Essen und weiteren drei Jahren Tätigkeit am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt übernahm er 1971 als jüngster Professor in Niedersachsen eine Stelle im damals noch inoffiziellen Institut für Sonderpädagogik der PH Hannover. Man erwartete von einem Psychologen aus einem internationalen Forschungsinstitut, dass er Theorie und Praxis der IQ-Messung als Grundlage von Selektion für die Sonderschule vermittelt.
Im Laufe der Zeit entfernte Dietrich Eggert sich jedoch von der klassischen Selektionsdiagnostik und propagierte eine Diagnostik, die an konkreten Förderansätzen orientiert ist. Sein Handbuch für die individuelle Diagnostik und Förderplanung Von den Stärken ausgehen wurde zum Standardwerk und Bestseller. Zwar gab er zunächst noch – im Sinne klassischer Testtheorie – den deutschen Wechsler-Tests für Kinder im Vorschulalter (HAWIVA) heraus und bearbeitete eine deutsche Version des Eysenck Persönlichkeitsinventars (EPI), aber bald danach konzentrierte er sich auf die Entwicklung nicht normorientierter, sondern prozessorientierter diagnostischer Inventare für die pädagogische Praxis. Sein Ziel war es in den Folgejahren, eine diagnostische Sichtweise zu etablieren und Verfahren zu entwickeln, die in inklusiven Institutionen ebenso wie in Förderschulen einsetzbar waren. Es entstanden zahlreiche förderdiagnostische Materialien für die Erfassung psychomotorischer Basiskompetenzen, auditiver Alltagshandlungen, Raum-Zeit-Wahrnehmungen und des kindlichen Selbstkonzepts.
Einen wichtigen Stellenwert erlangte für ihn früh die psychomotorische Förderung von Kindern mit Behinderungen. Er sah darin einen alternativen Zugang zum rein kognitiv ausgerichteten Schulunterricht und erhoffte sich Transferwirkungen auch auf schulische Lernerfolge. Im Aktionskries Psychomotorik engagierte er sich über viele Jahrzehnte und war im intensiven Austausch mit den Gründervätern und -müttern wie Johnny Kiphard, Friedhelm Schilling, Amara Eckert und vielen anderen. In diesem Kontext erweiterte er eine Motorik-Skala (LOSKF14) zu einem Inventar (DMB), entwarf Förderprogramme und führte Studien zur Effektivität und zu Transferwirkungen durch.
Im Rahmen seines universitären und schulischen Wirkens hat Dietrich Eggert sich sein Berufsleben lang für die Weiterentwicklung integrativer und inklusiver Schulen engagiert. Die Inklusion behinderter Kinder in den Regelunterricht war für ihn von je her wichtiges pädagogisches und schulpolitisches Ziel, für das er bei regelmäßigen Reisen ins Ausland – u.a. nach Finnland und Australien – best-practice-Beispiele gesucht hat. In diesem Rahmen hat er neben den förderdiagnostischen Materialien und Konzepten auch vielfältige Beiträge für die Curriculum-Entwicklung in der (sonderpädagogischen) Lehrer*innenausbildung und -fortbildung geleistet und wissenschaftliche Evaluationsstudien durchgeführt.
Viele Projekte entstanden in Zusammenarbeit mit Studierendengruppen, denen Dietrich Eggert auf diese Weise praxisnahe Forschung vermittelte. Er fühlte sich zeitlebens der empirischen Forschung verpflichtet, betonte aber gleichzeitig die pädagogische Praktikabilität, Bedürfnisorientierung und Akzeptanz. Deshalb waren Praxiskontakte und Kooperationen wichtige Bestandteile seiner Arbeit. Im Rahmen von Lehrveranstaltungen führte er Exkursionen nach Frankreich, Belgien, Holland, Luxemburg, später auch nach Liverpool und Finnland durch, um in der Praxis zu sehen, wie inklusive Erziehung und Bildung gelebt werden kann und im Alltag umgesetzt wird. Gemeinsam mit Studierenden auf Exkursionen zu gehen, gehörte für ihn ebenso wie erlebnispädagogische Projekte – z.B. gemeinsame Segeltouren – zur Vermittlung von Freude am Lernen.
Im Laufe seines akademischen Lebens hat Dietrich Eggert vor allem in den Bereichen der schulischen Inklusion und der psychomotorischen Förderung viele Promovend*innen betreut, von denen eine ganze Reihe bis heute Professuren bekleidet oder bekleidet hat, u.a. Karl-Dieter Schuck, Birgit Lütje-Klose, Günter Ratschinski, Christina Reichenbach, Monika Willenbring. Er engagierte sich insbesondere auch in der Betreuung von Doktorand*innen mit Beeinträchtigungen, die ihm sehr am Herzen lagen.
Dietrich Eggert hat selbst viele Forschungsprojekte durchgeführt und über 300 Publikationen vorgelegt. Er war wiederholt Dekan seines Fachbereichs bzw. seiner Fakultät, hat fünf Rufe an andere Universtäten abgelehnt und Gastprofessuren in Australien und der Schweiz übernommen.
Persönlich war Dietrich Eggert ein sehr vielseitig interessierter, kulturell und sportlich eingebundener Mensch. In seiner Freizeit segelte er begeistert, war Jazzfan und machte auch selbst Musik als Gitarrist: 28 Jahre lang spielte er in einer Kollegen-Dixieland-Band, die zahlreichen Auftritte in der Universitäts- und Stadtgesellschaft von Hannover sind legendär. Bis ins hohe Alter reiste er – auch nach seinem ersten Schlaganfall mit 64 Jahren und den folgenden motorischen Beeinträchtigungen – durch Deutschland und Europa, um z.B. Ausstellungen oder Konzerte zu besuchen.
Der Umgang mit Dietrich war dabei nicht immer einfach. Mit eigenen Worten beschreibt er sein „unbestreitbares Bedürfnis nach Dominanz“, das bisweilen „eine polarisierende Wirkung auf meine Mitmenschen“ hatte: „Entweder man mochte mich sehr oder gar nicht.“ Mit seinem streitbaren Wesen hat er sich und anderen das Leben manchmal schwer gemacht, hat provoziert und zum Widerspruch angeregt. Nicht selten führte das wiederum zu sehr produktiven, Veränderung anregenden und voran treibenden Prozessen, denn damit verband sich eine menschliche Grundhaltung der Akzeptanz von Unterschiedlichkeit und der Anspruch, Konflikte im Interesse bestmöglicher Lösungen auszuhalten und auszuhandeln. Er selber sagte von sich: „Trotzdem habe ich mich immer bemüht menschlich greifbar und angreifbar zu sein, den Menschen meiner Umwelt nahe zu sein und stets zu versuchen ihnen zu helfen. Ein Verständnis für den Menschen in seiner Eigenart zu finden und diese zu würdigen, das war immer sehr wichtig für mich.“
Wir verlieren mit Dietrich Eggert einen großen Wissenschaftler und Menschen, einen engagierten Mentor und großzügigen Stifter, der über seinen Tod hinaus das große Ziel der Weiterentwicklung eines inklusiven Bildungssystems in Deutschland unterstützt und junge Wissenschaftler*innen in diesem Feld fördert.
Dietrich Eggert hat in diesem Sinne verfügt, dass wir anstelle von Blumen um Spenden an seine Stiftung bitten sollen. Für diese kann eine Spendenbescheinigung ausgestellt werden. Spenden können unter folgender IBAN getätigt werden:
Dietrich Eggert Stiftung
IBAN DE54 7602 0070 0027 7995 82
Für den Vorstand der Dietrich Eggert Stiftung für schulische Inklusion
Antje Dovermann, Birgit Lütje-Klose, Phillip Neumann, Günter Ratschinski, Björn Serke