Dr. Sonja Krämer

Effekte der Inklusion von Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderbedarfen

Kognitive und psychosoziale Effekte sowie der Einfluss von Leistungsbeurteilungen


Zusammenfassung

Preisträgerin 2022: Dr. Sonja Krämer

Die Verabschiedung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) in Deutschland im Jahr 2009 ist der Ausgangspunkt für die kumulative Dissertation mit dem Titel „Effekte der Inklusion von Schüler:innen mit sonderpädagogischen Förderbedarfen – Kognitive und psychosoziale Effekte sowie der Einfluss von Leistungsbeurteilungen“. In Artikel 24 der UN-BRK wird betont, dass Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund ihrer Behinderungen vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden dürfen. Als Reaktion darauf wurden Bestrebungen unternommen ein inklusives Schulsystem zu entwickeln, in dem Schüler:innen mit und ohne Behinderungen gemeinsam lernen. Durch die Veränderungen im Bildungssystem in Richtung eines inklusiven Schulsystems stellt sich die Frage, welche Auswirkungen sich daraus für die Schüler:innen mit und ohne Behinderungen und inwiefern sich veränderte Ansprüche für die Lehrkräfte ergeben. An diesen Fragestellungen setzt die Dissertation an, indem in drei Studien die Effekte einer inklusiven Beschulung von Schüler:innen mit sonderpädagogischen Förderbedarfen (SPF) untersucht und dabei neben den Effekten auf die Schüler:innen auch Leistungsbeurteilungen und Merkmale der Lehrpersonen berücksichtigt wurden. Die besondere Relevanz besteht in der Untersuchung derjeniger Arten von SPF, die am häufigsten in der Schule zu finden sind und einen wichtigen Anteil der Diversität von Schüler:innen im inklusiven Klassenraum ausmachen.

In der ersten Studie wurde im Rahmen einer Meta-Analyse untersucht, welchen Effekt eine inklusive Beschulung von Schüler:innen mit SPF Lernen im Vergleich zu einer separierenden Beschulung hat (Krämer et al., 2021). Der SPF Lernen ist dadurch gekennzeichnet, dass betroffene Schüler:innen langfristig andauernde Schwierigkeiten haben, die Lernziele in mehreren Schulfächern zu erreichen – häufig in Verbindung mit einer leicht unterdurchschnittlichen Intelligenz. In der Meta-Analyse zeigte sich, dass Schüler:innen mit SPF Lernen von einer inklusiven Beschulung profitieren, wenn kognitive Aspekte (z. B. Ergebnisse in standardisierten Leistungstests) in den Blick genommen werden. In Bezug auf psychosoziale Aspekte wie beispielsweise Selbstkonzept, soziale Integration oder Ängste zeigte sich kein Unterschied für die Schüler:innen mit SPF Lernen zwischen einer Beschulung gemeinsam mit Schüler:innen ohne SPF und einer getrennten Beschulung in beispielsweise einer Förderschulklasse. Schüler:innen ohne SPF in inklusiven Klassen gemeinsam mit Schüler:innen mit SPF Lernen unterschieden sich weder in Bezug auf kognitive noch auf psychosoziale Aspekte von Schüler:innen ohne SPF in Regelschulen ohne die Anwesenheit von Schüler:innen mit SPF Lernen. Die Befunde dieser Studie stimmen positiv. Es deutet sich an, dass die durch die UN-BRK angestoßenen Veränderungen hin zu einem inklusiven Schulsystem zumindest in Bezug auf den SPF Lernen erfolgreich verlaufen.

Bei der zweiten Studie handelte es sich um eine experimentelle Studie in einem computersimulierten Klassenraum, in dem die Effekte einer inklusiven Beschulung von Schüler:innen mit SPF in der emotionalen und sozialen Entwicklung (ESE) im Hinblick auf Leistungsbeurteilungen unter Berücksichtigung von Stereotypen der Lehrkräfte untersucht wurden (Krämer & Zimmermann, 2021a). Der SPF ESE ist durch eine Vielzahl an unterschiedlichen Merkmalen gekennzeichnet, die sich von internalisierenden (z. B. Ängste) hin zu externalisierenden Schwierigkeiten (z. B. Aggressionen) erstrecken und mit Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion einhergehen. Betroffene Schüler:innen haben jedoch keine intellektuellen Beeinträchtigungen und sollten nach den gleichen fachlichen Lehrplänen wie Schüler:innen ohne SPF unterrichtet werden. In dieser zweiten Studie zeigte sich allerdings, dass Schüler:innen mit SPF ESE im Vergleich zu Schüler:innen ohne SPF trotz gleicher Leistungen von den Lehrkräften schlechter beurteilt wurden und seltener eine Gymnasialempfehlung erhielten. Außerdem beeinflussten die Stereotype der Lehrkräfte gegenüber Schüler:innen mit SPF ESE die Vergabe von Gymnasialempfehlungen: Lehrkräfte, die Schüler:innen mit SPF ESE stereotyp als kalt und/oder inkompetent eingeschätzt haben, vergaben an diese Schüler:innen seltener eine Gymnasialempfehlung als Lehrkräfte, die diese Gruppe von Schüler:innen als warm und kompetent eingeschätzt haben. In der dritten Studie handelte es sich ebenfalls um eine experimentelle Arbeit. Darin wurden Zusammenhänge zwischen einem SPF ESE, Stress von Lehramtsstudierenden, Leistungsbeurteilungen und Aufrufhäufigkeiten untersucht (Krämer & Zimmermann, 2021b). Auch hier zeigte sich ein negativer Effekt eines SPF ESE auf Leistungsbeurteilungen unter Kontrolle tatsächlicher Leistungen. Darüber hinaus wurden Schüler:innen mit SPF ESE im Vergleich zu Schüler:innen ohne SPF häufiger von den Lehramtsstudierenden aufgerufen und je öfter Schüler:innen aufgerufen wurden, desto schlechter waren die Leistungsbeurteilungen im Vergleich zu denjenigen Schüler:innen, die seltener aufgerufen wurden. Zudem zeigte sich, dass gestresste Lehramtsstudierende die Schüler:innen mit und ohne SPF ESE gleich häufig aufriefen, während weniger gestresste Lehramtsstudierende die Schüler:innen mit SPF ESE häufiger aufriefen als die Schüler:innen ohne SPF ESE. Beide experimentellen Studien zeigen damit, dass sich Urteilsverzerrungen sowohl bei Lehramtsstudierenden als auch bei erfahrenen Lehrkräften finden und es sich um einen stabilen Effekt der Unterschätzung von Schüler:innen mit SPF ESE im Vergleich zu Schüler:innen ohne SPF zu handeln scheint. Die Folgen für die Schüler:innen mit SPF ESE können gravierend sein und die weitere Schullaufbahn sowie den späteren Berufsweg beeinflussen.

Zusammenfassend konnte durch die Studien der Dissertation der Forschungsstand zum Thema schulischer Inklusion erweitert werden, indem zwei häufig vorkommende Arten von SPF in den Blick genommen und weitere relevante Aspekte einer inklusiven Beschulung berücksichtigt wurden. Daran schließt sich die Identifizierung von Einflussgrößen an, anhand derer die erfolgreiche Entwicklung eines inklusiven Schulsystems vorangetrieben werden könnte. Dazu gehört die Veränderung von Stereotypen gegenüber Menschen mit besonderen Merkmalen genauso wie die Notwendigkeit der Sicherstellung von adäquaten Leistungsbeurteilungen, die auf den tatsächlichen Leistungen der Schüler:innen basieren.

Krämer, S., Möller, J. & Zimmermann, F. (2021). Inclusive education of students with general learning difficulties: A meta-analysis. Review of Educational Research, 91(3), 432–478. https://doi.org/10.3102/0034654321998072

Krämer, S. & Zimmermann, F. (2021a). Students with emotional and behavioral disorder and teachers’ stereotypes – Effects on teacher judgments. The Journal of Experimental Education. https://doi.org/10.1080/00220973.2021.1934809

Krämer, S. & Zimmermann, F. (2021b). Effect of students’ emotional and behavioral disorder and pre-service teachers’ stress on judgments in a simulated class. Teaching and Teacher Education, 108. https://doi.org/10.1016/j.tate.2021.103514